Betriebsreportage: Inhalationsnarkose Betriebsreportage: Inhalationsnarkose

Betriebsreportage: Inhalationsnarkose mit Isofluran

Was für ein ungemütlicher Herbsttag: Es regnet und stürmt, die Temperaturen im einstelligen Bereich - und trotzdem steht die Schweinestalltür groß offen auf dem Hof von Familie Jostmann in Schröttinghausen bei Bielefeld. Denn heute ist "Kastriertag" - und dafür wird ein gut belüfteter Raum benötigt.

Tierarzt Dr. Wilhelm Hemkemeyer, der den Betrieb Jostmann betreut, legt die männlichen Ferkel zur Kastration mit dem Narkosegas Isofluran in einen kurzen, aber tiefen Schlaf. Um negative Auswirkungen auf Menschen auszuschließen, muss bei dieser Methode stets für genug Frischluftzufuhr gesorgt werden - am besten mit der weit offenstehenden Tür nach draußen.

Seit 1990 bewirtschaftet die Familie Jostmann ihren Hof nach den Neuland-Richtlinien. "Wir mussten nicht viel umstellen, unsere Tiere wurden schon zuvor auf Stroh gehalten", sagt Arno Jostmann, der mit seiner Frau Friederike und Sohn Karsten den Betrieb führt. Bei Neuland wird den Tieren eine artgerechtere Haltungsumgebung geboten als in konventionellen Ställen: Neben Stroheinstreu, mehr Platz, freiem Abferkeln, maximal 1,5 Großvieheinheiten pro Hektar (=Flächenbindung der Tierhaltung), Glyphosatverbot und gentechnikfreiem Futter gehört seit zwölf Jahren auch die Kastration unter Isoflurannarkose dazu.


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Zum Betrieb gehören 100 Sauen und 100 Mastplätze. In der Regel werden die Ferkel an andere Neulandbetriebe vermarktet, ein Viertel der Neulandferkel in Nordrhein-Westfalen kommen vom Betrieb Jostmann. Nur wenige Ferkel, die nicht in die Gruppengrößen der Mäster passen, werden auf dem Hof von Familie Jostmann weiter gemästet und dann über die Neulandschiene vermarktet. Kürzlich stiegen Jostmanns bei den Sauen vom Edelschwein auf die TN70 von Topigs Norsvin um: "Das ist eine ruhige Sauenlinie, die passt gut zum freien Abferkeln", sagt Arno Jostmann. Zum Betrieb gehören weiterhin 57 Hektar Fläche, angebaut werden Gerste, Weizen, Mais und Raps. Außerdem werden auf Grünland noch zehn Mutterkühe gehalten.

Pro Jahr und Sau rechnen Jostmanns mit 23 verkauften Ferkeln, die Säugezeit liegt bei sechs Wochen. Die Ferkel bekommen in der ersten Lebenswoche die üblichen Behandlungen wie Eisengabe und Ohrmarke. Die Zähne werden bei Neuland weder geschliffen noch geknipst, auch der Ringelschwanz bleibt dran.

Jede Sau kommt auch durch die längere Säugezeit auf zwei Würfe pro Jahr. Dieser Wert liegt in konventionellen Haltungssystemen mit etwa 2,3 Würfen pro Jahr deutlich höher. Vermarktet an die Mäster werden die aufgezogenen Ferkel dann mit 25 Kilogramm Lebendgewicht. Mit 72 Euro/Ferkel (Stand: Oktober 2019) ist der Neuland-Ferkelpreis deutlich höher als bei konventionellen Ferkeln. Allerdings erzielen auch die Mäster deutlich mehr für das endgemästete Schwein (Oktober 2019: 2,20 Euro/kg). Mit Schwanzbeißen hat der Betrieb Jostmann keinerlei Probleme. Täglich wird eingestreut, das hält die Tiere beschäftigt. Für die Kastration hat sich Arno Jostmann bewusst für die Durchführung durch den Tierarzt entschieden, wenngleich er durch den Wegfall des sogenannten "Tierärztevorbehalts" für die Narkose mit Isofluran diese Tätigkeit demnächst auch selber durchführen könnte, sofern er den Sachkundenachweis erworben hat.

Seit 2011 führt Tierarzt Dr. Wilhelm Hemkemeyer aus Harsewinkel die Isoflurannarkose auch auf dem Hof Jostmann aus. Er hat sich auf die Betreuung von alternativen Haltungsformen spezialisiert, daher sind vor allem Naturland-, Bioland- und Neulandhöfe seine Kunden. Kein "Neuland" hingegen ist für Dr. Hemkemeyer das Kastrieren mit Betäubung, das er seit nunmehr acht Jahren mit der Isofluran-Methode macht. "Ich habe diese Methode in den späten 90er-Jahren in der Schweiz kennengelernt, die uns ja bei diesem Thema voraus sind, und das Verfahren hat mich interessiert." Neuland änderte 2008 seine Richtlinien für Schweinehaltung und verbot fortan das Kastrieren ohne Betäubung. Seitdem werden pro Jahr bundesweit rund 13.500 Neuland-Ferkel auf 35 Höfen mit Isofluran betäubt, bevor sie kastriert werden. Die Kosten von sechs Euro pro Ferkel teilen sich zu je einem Drittel der Sauenhalter, der Mäster sowie der Vermarkter.

Dr. Hemkemeyer wendet das Verfahren erfolgreich an. Rund 35.000 Ferkel hat er in den vergangenen Jahren auf inzwischen 16 Betrieben mit 20 bis 200 Sauen mit dieser Methode narkotisiert. Verluste - etwa, dass Tiere nicht mehr aufwachen aus der Narkose - habe es noch nicht gegeben. Der Zeitaufwand für 50 Ferkel beträgt bei einem Gerät mit 2 Narkosemasken eine Stunde – wenn die Landwirte alles bestens vorbereitet haben und die gesamte Organisation klappt. Darauf kann sich Dr. Hemkemeyer bei Familie Jostmann verlassen.

Sohn Karsten Jostmann geht Bucht für Bucht durch und selektiert die männlichen Ferkel. Denen gibt er rund 20 Minuten vor dem Eingriff das Schmerzmittel Meloxicam. Zwar spüren die Ferkel von der eigentlichen Kastration dank der Inhalationsnarkose nichts. Jedoch können Wundschmerzen - so genannter postoperativer Schmerz - nach der Aufwachphase auftreten. Das Schmerzmittel, das rund 24 Stunden wirkt, soll dies verhindern.

In wurfweise getrennten Boxen werden die männlichen Ferkel in den Raum gefahren, in dem der Tierarzt sein Narkosegerät aufgebaut hat. Die einzelnen Ferkel werden an den Hinterbeinen gefasst, auf den Rücken gedreht und in die Inhalationsmaske gelegt. Vier Ferkel können bei den neuen Narkosegeräten gleichzeitig nebeneinanderliegen. Sobald die Schweineschnauze dort Kontakt hat, strömt das Gas aus. Die ersten Sekunden müssen die Ferkel noch etwas gehalten werden, dann lassen die Bewegungen spürbar nach. Eine rote Lampe leuchtet, solange die Ferkel noch nicht betäubt sind. Springt diese Lampe nach 90 Sekunden auf Grün, ist die für eine Kastration erforderliche Narkosetiefe erreicht. Diese muss noch individuell durch Reflexprüfung, insbesondere im Bereich der Zwischenklauen, überprüft werden. Bleiben die Reflexe aus, werden die Hoden durch zwei kleine Hautschnitte vorgelagert und entfernt. Die Wundfläche wird mit einem Jodspray behandelt, um Infektionen vorzubeugen.

Die kastrierten Ferkel werden aus dem Gerät genommen und zurück in die Transportbox zu ihren Wurfgeschwistern gelegt. Nach etwa vier bis fünf Minuten werden die Ferkel wieder wach - erst etwas benommen, dann zunehmend agiler. Erst wenn sie wieder vollkommen fit und auf den Beinen sind – spätestens nach 15 Minuten - werden die Kastraten zurück zur Sau und den weiblichen Geschwistern gebracht, um das Erdrücken von eventuell noch nicht vollends mobilen Ferkeln durch die Sau zu vermeiden. Die zurückgebrachten Ferkel sind schon wieder so munter, dass sie bei der Sau Milch saugen. "Nach zwei Tagen ist die Wunde komplett zugeheilt, nach vier bis fünf Tagen sieht man von der Wunde nichts mehr", so Dr. Hemkemeyer, der von dem Verfahren überzeugt ist.

Letzte Aktualisierung 27.08.2021

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