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Angesichts der Bedingungen einer zunehmend technisierten und digitalisierten Arbeit in der Landwirtschaft und einer möglichen Distanzierung vom Tier wurden in dem Projekt Lehr-Lerneinheiten für die überbetriebliche Ausbildung (ÜBA) gestaltet, die eine Entwicklung einer individuellen professionellen Haltung im Hinblick auf das Tierwohl ermöglichen. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Bedeutungszunahme von Prozessqualität und Tierschutz in der Nutztierhaltung von Relevanz.
Das hier beschriebene Projekt besteht aus zwei parallelen Untersuchungsansätzen, die zur Mitte des Projektes (04/2023) miteinander verwoben wurden.
Die Arbeitspakete des Teams um Frau Prof. Dr. Rita Meyer vom Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung (IfBE) der Leibniz Universität Hannover umfassen eine Dokumentenanalyse der Ordnungsmittel in den Ausbildungsberufen als Landwirt:in und Tierwirt:in. Im Anschluss wurden die Ergebnisse mittels einer Expert:innenbefragung kommunikativ validiert und Spannungsfelder auf ordnungspolitischer Ebene identifiziert.
In einer empirischen Feldstudie wurde ermittelt, welche Faktoren der berufsbezogenen Sozialisation bei den Auszubildenden im Ausbildungsberuf Landwirt:in wirksam werden. Um den Stellenwert von Interaktion für die Entwicklung einer Tierschutzkompetenz zu explorieren, wurden Wechselwirkungen zwischen der individuellen Persönlichkeitsentwicklung, den umgebenden sozialen Strukturen im Berufs- und Ausbildungsalltag sowie im persönlichen Umfeld in den Blick genommen. In der empirischen Erhebungsphase (Feldstudie und Zielgruppenanalyse) wurde ein Fokus auf die Befragung von angehenden Landwirt:innen und Ausbildungspersonal in der landwirtschaftlichen ÜBA gelegt.
Parallel dazu wertete das Team des TI um Frau Dr. Solveig March und Herrn Dr. Jan Brinkmann vorliegende Tierwohl-Erhebungsprotokolle und Praxisleitfäden sowie die zugehörigen Tools und Schulungs- bzw. Informationsunterlagen für die Rinder- sowie Schweinehaltung dahingehend aus, ob diese auch in der Aus- und Weiterbildung erfolgreich thematisiert bzw. in den Ausbildungsbetrieben angewendet werden können, um eine Sensibilisierung für das Thema Tierwohl zu erreichen.
Im Rahmen einer repräsentativen Untersuchung aller Ausbildungsbetriebe Niedersachsens konnte festgestellt werden, inwieweit die zahlreichen verfügbaren Praxisleitfäden, Checklisten, Erfassungs- und Bewertungshilfen in den landwirtschaftlichen Betrieben bekannt bzw. verbreitet sind und in der betrieblichen Ausbildung zur Anwendung kommen. Darüber hinaus wurden die Managementhilfen kritisch auf ihre Anwenderfreundlichkeit mit dem Fokus auf die Aus- und Weiterbildung geprüft und die für besonders geeignet befundenen bisherigen Ansätze zielgruppenspezifisch überarbeitet bzw. weiterentwickelt.
Ausgehend von den Perspektiven der (angehenden) Landwirt:innen sowie des Ausbildungspersonals auf landwirtschaftlichen Ausbildungsbetrieben und eines überbetrieblichen Bildungszentrums (ÜBZ) wurde die Haltung der betrieblichen Ausbilder:innen und der Auszubildenden zum Thema Tierwohl untersucht. Zudem wurden Hemmnisse in der praktischen Umsetzung von Tierschutzmaßnahmen, die durch wirtschaftliche und zeitliche Zwänge oder auch benutzerunfreundliche Handlungsanweisungen begründet werden, betrachtet. Es wurde erprobt und analysiert, mit welchen didaktischen Methoden eine lern- und kompetenzförderliche Gestaltung des Themenkomplexes „Tierschutz/Tierwohl in der Nutztierhaltung“ möglich ist. Diese Erkenntnisse bilden die Grundlage für die gemeinsame Entwicklung der Lehr-Lerneinheiten.
Insgesamt zeigt sich, dass die steigenden gesellschaftlichen und politischen Anforderungen für die Gestaltung einer tierwohlorientierten Nutztierhaltung nicht nur die Arbeitsbedingungen der Landwirt:innen, sondern auch die landwirtschaftliche Berufsausbildung grundlegend prägen.
Auf ordnungspolitischer Ebene zeigen sich Novellierungspotenziale, die neben der Benennung der umfassenden beruflichen Handlungskompetenz als übergeordnetes Ausbildungsziel auch die Konzeptionierung eines Lernfelds zu den Themen Tierschutz und Tierwohl in der Nutztierhaltung betreffen. Darüber hinaus sollte in der betrieblichen Ausbildung der Empfehlung des BIBB (2021) bzgl. der Umsetzung der novellierten Standardberufsbildpositionen gefolgt werden.
Für die Entwicklung eines beruflichen Selbstverständnisses der (angehenden) Landwirt:innen wird v. a. auf der Basis der erhobenen Daten in den problemzentrierten Interviews mit den Auszubildenden deutlich, dass gesellschaftliche und politische Erwartungen die individuelle Beruflichkeit sowie kollektive, branchenspezifische Werte, Haltungen und Selbstansprüche beeinflussen. In diesem Zusammenhang können zwei Ausprägungen von Beruflichkeit, eine offene und eine eher geschlossene, identifiziert werden, die in einem direkten Bezug zu der individuellen tierwohlorientierten Haltung stehen. Damit einher geht die Bereitschaft (angehender) Landwirt:innen, den Diskurs um die Gestaltung von Tierwohl in der Nutztierhaltung aktiv und im Austausch mit den Verbraucher:innen zu ermöglichen. Dem gegenüber steht eine eher tradierte Beruflichkeit, deren zentrales Merkmal eine konsequente Distanzierung der Landwirt:innen von den Verbraucher:innen ist.
Mit Blick auf die drei Lernorte in der Berufsausbildung zum:r Landwirt:in zeigt sich, dass die Lernortkooperationen und betrieblichen Rahmenbedingungen eine entscheidende Rolle in beruflichen Lern- und Sozialisationsprozessen einnehmen. Neben dem zeitlichen Umfang der Ausbildungsdauer an den jeweiligen Lernorten ist auch der praxisorientierte Rückbezug der Lehr-Lerninhalte auf die Arbeit im Lernort Betrieb entscheidend für den Lerntransfer (betriebsorientierte Praxisreflexion). Dies gilt insbesondere für Erkenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten tierwohlorientierten Handelns in der Nutztierhaltung.
Berufsspezifische Verhaltensweisen stehen in der Landwirtschaft in einer engen Wechselwirkung mit einer branchenspezifischen Normalität, die hinsichtlich operationalisierbarer Merkmale durch eine zeitliche und räumliche Entgrenzung der Arbeit bestimmt wird. Diese Normalität trägt dazu bei, dass bereits angehende Landwirt:innen über eine ausgeprägte Bereitschaft verfügen, jenseits der gesetzlich geregelten Arbeitszeiten Mehrarbeit für die Umsetzung von Tierschutz und eine Verbesserung des Tierwohls in Kauf zu nehmen. Dabei stehen Mehrarbeit als tierwohlorientierte Performanz und hohe Arbeitsbelastungen, die physische und psychische Gefährdungen der Gesundheit zur Folge haben können, in einem Spannungsfeld. Als ursächlich und Begründung des Verhaltens wird ein hoher ökonomischer Druck in der Nutztierhaltung zu Grunde gelegt. Damit wird deutlich, dass die Auszubildenden Tierschutzaspekten in ihrer Arbeit eine hohe Relevanz zuschreiben, während die gesellschaftlichen Forderungen diesbezüglich jedoch eher Widerstände auslösen.
Damit eine zukunftsfähige Berufsausbildung für angehende Landwirt:innen nachhaltig realisiert werden kann, bestehen v. a. für das berufliche Bildungspersonal umfassende berufspädagogische, didaktische sowie methodische Herausforderungen. Damit diese bewältigt werden können erfordern konkretes Wissen, aber auch spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten, die nicht nur agrarwissenschaftliche, sondern auch pädagogische Fachkenntnisse erfordern. Damit die Entwicklung von Tierschutz- und tierwohlorientierter Handlungskompetenz ermöglicht werden kann, sind fachliche Schulungen unzureichend. Die Förderung von ethischer Verantwortung, Wertvorstellungen und Empathiefähigkeit setzen die Organisation der Ausbildung in handlungsorientierte Lehr-Lernsituationen voraus, in denen Prozesse der Selbstreflexion angeleitet werden.
In Niedersachsen ist eine Lernortkooperation in der landwirtschaftlichen Berufsausbildung kaum vorhanden und Lehrkräften an berufsbildenden Schulen in dem Fachbereich Agrar werden über einen Seiten- und Quereinstieg rekrutiert. Hinzu kommt, dass das Ausbildungspersonal in der ÜBA zwar über grundlegende pädagogische Kenntnisse verfügt, jedoch für sich selbst Unterstützungs- und Schulungsbedarfe feststellt.
Vor diesem Hintergrund wurden insgesamt neun Lehr-Lerneinheiten für die Tierarten Rind und Schwein für die überbetriebliche Ausbildung sowohl inhaltlich, als auch didaktisch-methodisch überarbeitet oder neu entwickelt. Die Einheiten rücken neben der Vermittlung des erforderlichen Fachwissens die Sensibilisierung der Auszubildenden für die Bedürfnisse der Tiere in den Mittelpunkt, um einen empathischen Umgang mit dem Tier zu fördern. Die erworbenen Fertigkeiten werden in praktischen Übungen erprobt, um eigene Erfahrungen zu sammeln und ihren persönlichen Blick auf das Tier zu schulen. Dies soll sie in die Lage versetzen, selbstreflexiv und verantwortungsvoll im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Betriebsführung und Tierwohl zu handeln.
Die Kooperation eines landwirtschaftlichen Bildungszentrums, einer agrarischen Forschungseinrichtung und eines berufspädagogischen Instituts stellt ein Novum dar. Es zeigt sich, dass es durch die trans- und interdisziplinäre Zusammenarbeit gelingen kann, die Lücke zwischen wissenschaftlichen bzw. theoretischen Erkenntnissen und der Berufspraxis anhand von handlungsorientierten Lehr-Lernkonzepten zu schließen.
In dem Projektvorhaben wird der Kompetenzerwerb angehender Landwirt:innen fokussiert, wobei die entwickelten Lehr-Lernkonzepte (Fahrpläne) als Handreichung für berufliches Bildungspersonal (betriebliches und berufsschulisches Bildungspersonal) bei der Gestaltung tierwohl- und kompetenzorientierter Lehr-Lerneinheiten fungieren.
Die Ergebnisse sind für alle Interessierten über die Lernplattform abrufbar: gruenetalente-niedersachsen.de
Zusammenfassend zeigt sich, dass eine Verbesserung der Tierwohlsituation in der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung durch Veränderungen in der Ausbildungspraxis, also mit Hilfe von Konzepten für tierwohl- und kompetenzorientierte Lehr-Lerneinheiten möglich ist. Allerdings ist es notwendig, Zeitfenster für die vorgesehenen Lerninhalte auf einer übergeordneten Ebene zu verankern. Hinzu kommt, dass das Bildungspersonal dazu befähigt werden sollte, didaktisch und methodisch begründet in Ausbildungssituationen zu handeln.